38. Kapitel

 

Was sollen wir bloß tun?«, fragte Angelica. Ihr Gesicht war aschfahl, während sie sich fest an die Hand ihres Bruders klammerte.

Patrick starrte aus dem Fenster des Kourakin-Anwesens. Die geschäftig vorbeilaufenden Menschen nahm er kaum wahr. Irgendwo da draußen wurden Violet und Ismail von den Wahren Vampiren gefangen gehalten. Wenn sie nicht bereits tot sind. Er verdrängte den Gedanken sofort. Nein, er musste daran glauben, dass sie noch am Leben waren. Dass er sie finden würde. Irgendwie.

Es war helllichter Tag; irgendjemand musste etwas gesehen haben.

»Wir finden sie«, sagte Patrick im Brustton der Überzeugung.

»Du glaubst also, dass man Ismail und Violet am selben Ort festhält?«, fragte die Prinzessin ängstlich.

Patrick hatte keinen Zweifel, dass es den Wahren Vampiren irgendwie gelungen war, den Anführer des Südclans zu überwältigen. Angelica hatte erzählt, seine Kutsche sei ihnen eine ganze Zeitlang gefolgt, dann aber plötzlich verschwunden gewesen. Sicherlich war der Kutscher bestochen worden.

Sie hätten vorsichtiger sein müssen. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Es war alles seine Schuld.

»Ayse, wie viele Leute hast du hier?« Er wandte sich zu der Türkin um, die neben James stand. Beide zeigten dieselben grimmigen Mienen.

»Vier Frauen und drei Männer, denen ich mein Leben anvertrauen würde, und zwölf weitere, auf die Verlass ist«, erwiderte sie knapp.

»Gut. James, du hast deine Wache mitgebracht?«

»Zwanzig Männer und Frauen. Stehen alle zu deiner Verfügung, Clanführer«, nickte der Herzog.

»Gut. Ich möchte, dass du und deine Männer hierbleibt und die Auserwählte beschützt. Ayse, du und deine Leute, ihr folgt mir. Die Wahren Vampire werden heute unseren Zorn zu spüren bekommen!«

»Wo sollen wir anfangen zu suchen?«

»In Daniels Anwesen. Dann sehen wir weiter.« Er sagte es zuversichtlich, weil er die Prinzessin nicht noch mehr beunruhigen wollte, aber in Wirklichkeit bezweifelte er, dass sie dort irgendetwas finden würden. Die Ohnmacht, die er beim Erhalt des Schreibens von Mrs. Devon verspürt hatte, drohte ihn erneut zu überwältigen.

Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Trotzdem, er musste einen Moment lang allein sein, um sich zu sammeln. Er eilte zur Tür.

Mikhail folgte ihm auf den Gang hinaus.

»Ich möchte helfen«, erklärte er schlicht.

»Das kann ich verstehen, aber das Beste, was du im Moment für uns tun kannst, ist, deine Schwester zu beruhigen. Sie darf sich in ihrem Zustand nicht zu sehr aufregen, das könnte üble Folgen haben«, sagte Patrick. »Du musst ihr beistehen, Mikhail. Geh zu ihr, ich werde gleich wieder da sein.«

Patrick war froh, als Mikhail nickte und zu den anderen ins Empfangszimmer zurückging.

Er selbst dagegen wandte sich nach rechts, zur Bibliothek - Violets Lieblingszimmer. Dort ballte er die Fäuste und holte mehrmals tief Luft.

Wo waren sie? Wie sollte er sie finden? Wie?

Erneut drohte ihn die Panik zu überwältigen. Er atmete ruhig ein und aus, kämpfte seine aufsteigende Übelkeit nieder.

PATRICK.

Patrick fiel auf die Knie. Diese Stimme! Das konnte nicht sein! Oder?

VIOLET!, schrie er in Gedanken. Hatte er es sich bloß eingebildet? Hörte er jetzt schon Stimmen? Es musste Einbildung sein.

PATRICK, BITTE. ICH BRAUCHE DICH.

Es war Violet. Sie sprach in Gedanken zu ihm. Sie war seine wahre Liebe, sie war ein Teil von ihm.

VIOLET, ES IST GUT. ICH KOMME ZU DIR.

BIST DU ES WIRKLICH? WIE KANN DAS SEIN?

Sein rauer Atem erfüllte den Raum, während Patrick versuchte, sich zu konzentrieren. DAS IST JETZT UNWICHTIG. VIOLET, WO BIST DU? IST ISMAIL BEI DIR?

Stille. Für einen Moment bekam Patrick Angst, mehr Angst als je zuvor in seinem Leben. Hatte er sie verloren?

ICH WEISS NICHT, WO ICH BIN, meldete sie sich mit schwächerer Stimme. ISMAIL IST HIER, ABER MAN HAT IHM GIFT GEGEBEN.

Patricks Gedanken rasten. WIE BIST DU DORTHINGEKOMMEN? WIE WEIT IST  ES VON MEINEM HAUS ENTFERNT? WAS RIECHST DU?

MIT DER KUTSCHE. ICH WEISS NICHT, WIE LANGE. NICHT LANGE. DRAUSSEN WAREN LEUTE, ES MUSS EINE GRÖSSERE STRASSE SEIN. DAS HAUS IST ALT, ES RIECHT FEUCHT UND MODRIG

Feucht und modrig? Das genügte nicht, er brauchte mehr.

WAS SONST? WAS RIECHST DU NOCH, VIOLET? ICH VERSUCH'S... ES RIECHT NACH ROSEN, IRGENDWO OBEN UND NACH NOCH WAS. ZIMT. ES RIECHT STARK NACH ZIMT.

Patricks Augen verengten sich zu Schlitzen. Er kannte nur ein Haus, in dem es stark nach Zimt roch.

VIOLET, IST DORT EINE FRAU NAMENS ELISABETH? HAST DU DIESEN NAMEN GEHÖRT?

JA. ABER ES PASSIERT WAS! DANIEL HAT MEINEN ARM. PATRICK, BITTE!

Patrick rappelte sich auf die Füße und begann zu rennen. Er rief nach James. ICH KOMME, VIOLET, HALTE DURCH!

Patricks Stimme verschwand. Violet machte sich auf Schmerzen gefasst, aber sie blieben aus. Daniel ließ ihren Arm sinken und betastete grob ihren Bauch.

»Das kann nicht sein. Unmöglich«, murmelte er. Violet wartete mit angehaltenem Atem. Sie begriff nicht, was vorging, und das war beinahe schlimmer als alles andere.

Und dann begann Daniel zu lachen. Er lachte und lachte und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Er hat den Verstand verloren, dachte Violet, er ist irrsinnig geworden! Sie wollte ihn anschreien: Töte mich! Mach ein Ende!

Aber sie schwieg.

»Freunde!«, rief Daniel schließlich, als er wieder sprechen konnte. »Ich habe eine unerwartete Überraschung für euch!«

Violet spürte die Verwirrung im Raum. Sie dachte an Ismail. Sie konnte ihn riechen, irgendwo hinter ihrem Kopf; er lag auf dem Boden. Ob er die Wirkung des Gifts besiegen konnte? Vielleicht ging es ihm ja schon besser. Vielleicht könnte er ja um sein Leben kämpfen.

In diesem Moment wurde sie von Daniel vom Altar gerissen.

Sie stolperte, und er hielt sie brutal fest, bog ihr die Arme hinter den Rücken.

»Seht das Zeichen auf ihrem Bauch! Sie trägt das Kind eines Vampirs!«, rief Daniel triumphierend aus.

Violets Mund war wie ausgetrocknet. Vergeblich versuchte sie, sich von ihm loszumachen, um ihren Leib zu schützen. Das war unmöglich. Sie konnte nicht schwanger sein. Patrick hatte gesagt, Vampire könnten mit Menschen keine Kinder haben. Aber vielleicht irrte er sich ja? Hatte sie vorhin wirklich telepathisch mit ihm kommuniziert?

Auf einmal spürte sie die wachsende Erregung im Raum. Ihre Knie drohten nachzugeben. Sie konnte die gierigen Blicke förmlich spüren.

»Ich hätte es wissen müssen.« Violet fühlte Daniels heißen Atem an ihrem Ohr. »Anne Dewberry gehört zur Sippe der Auserwählten, sie war die Schwester von Angelicas Mutter. Kein Wunder, dass sie es so auf Ismail abgesehen hatte! Er ist dein Vater, stimmt's?«

Violet wurde schwindlig. Nein, Ismail war nicht ihr Vater. Oder doch?

Daniel drückte sie grob einem anderen in die Arme und verschwand in die Richtung, in der Ismail lag.

»Gratuliere, Ismail. Du hast eine schöne Tochter, auch wenn sie bloß ein Mischling ist. Sag, wie hast du es geschafft, die gute Lady Dewberry flachzulegen? Und gar zu schwängern? Ich kannte sie und weiß daher, wie sehr sie dich hasste.«

Violet lauschte, aber Ismail sagte nichts.

»Wie rührend«, lachte David. »Schaut sie euch an! Sie scheint es tatsächlich nicht gewusst zu haben!«

Irgendjemand klatschte.

»Wie herrlich! Wir haben einen Clanführer und eine Auserwählte!«, lachte Elisabeth. »Ich habe eine Idee! Lasst sie uns nebeneinander auf den Altar legen und zusammen opfern!«

»Warum nicht?«, sagte Daniel nachdenklich. »Legt sie auf den Stein, und bindet sie fest! Es wird Zeit, das hier zu Ende zu bringen.«

Violet wehrte sich vergeblich. Im Nu lag sie wieder auf dem Marmorblock. Wenig später wurde Ismail neben sie auf den Opferstein gelegt, und beide wurden mit Schnüren gefesselt. Aber alles, woran sie denken konnte, war, dass sie neben ihrem Vater lag.

»Ihr vier schlitzt ihn auf und lasst ihn ausbluten, aber meidet die Schlagadern. Es soll nicht zu schnell gehen. Und ihr drei dürft als Erstes ihr Blut trinken«, wies Daniel sie an. Violet hörte ihn kaum. Sie schwebte in einer Art Zwischenwelt. Konnte er wirklich ihr Vater sein? Ihre Mutter hatte Daniel weisgemacht, der Chefgärtner sei ihr Vater. Aber sie wusste, dass ihre Mutter eine Lügnerin war. Trotzdem, es konnte nicht sein, oder?

»Vater?«, fragte sie so leise, dass es die johlenden Vampire nicht hören konnten. Es roch auf einmal nach Blut, und sie spürte, wie der Körper neben ihr zusammenzuckte.

Sie schnitten ihm die Adern auf. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Doch dann spürte sie, wie scharfe Zähne in ihren Oberschenkel bissen. Sie musste an sich halten, um nicht aufzuschreien. Sie spürte, wie ihr das Blut ausgesaugt wurde.

Violet streckte die Hand aus und tastete nach Ismail. Seine Finger schlössen sich um die ihren. Sie spürte, wie schwach er war, spürte sein tiefes Bedauern.

»Ja.« Ein Hauch nur, zu leise, um sicher sein zu können, dass sie recht gehört hatte. Sie versuchte, ihm ihren Kopf zuzuwenden, näher an ihn heranzurücken.

»Ja«, sagte er, und diesmal gab es keinen Zweifel. Er war ihr Vater. Sie hatte einen Vater.

Ein weiterer Vampir biss in ihren Arm, direkt oberhalb ihres Ellbogens. Sie schrie auf. Bald. Bald würde alles vorbei sein.

Sie atmete ruhig ein und aus, versuchte nur eines wahrzunehmen: ihre Hand in der Hand ihres Vaters. Ihre Gedanken dagegen wanderten zu Patrick. Sie stellte sich vor, dass er jetzt bei ihr war, dass sein Geruch sie umhüllte. Der Geruch ihrer geliebten schottischen Berge, der Duft des Heidekrauts. Ihre Einbildung war so klar, dass sie ihn fast zu spüren glaubte.

Konnte Blutverlust zu Halluzinationen führen?

Und dann ertönte oben ein lautes Krachen. Die Blutsauger fuhren erschrocken zurück, Münder lösten sich von ihrem Körper. Sie hörte Elisabeth kreischen, hörte die Vampire in alle Richtungen davonrennen.

»Violet!«

Es war Patricks Stimme. Was für eine schöne Stimme, dachte sie träumerisch.

Dann wusste sie nichts mehr.

 

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